15.3 die Jahre ab 2011

 

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Tagesspiegel

 

von Stefan Jacobs, vom 24. November 2016, 07:44

Speisewagen der Bahn 100 Jahre Mitropa: "Die Tassen stark, der Kaffee schwach"Vor 100 Jahren wurde die Mitropa gegründet – ein Imperium fürs Essen und Schlafen unterwegs. Geblieben sind Freundesvereine und Porzellan auf Ebay. Erinnern Sie sich? von Stefan Jacobs

Ein Imperium wird 100 an diesem Donnerstag. Würde 100, wenn Hartmut-Bahnchef Mehdorn es nicht versenkt hätte, um gleich mal möglichst populär die Schuldfrage zu klären. Also gibt es heute kein Fest mit Ragout fin, Soljanka und Nordhäuser Doppelkorn, sondern nur stille Einkehr bei den Veteranen. Auf den Tag genau vor 100 Jahren wurde die Mitropa gegründet, die MITteleuROPäische Schlafwagen- und Speisewagen Aktiengesellschaft. Die mit den roten Speisewagen mit gelber Schrift, den Autobahnraststätten und Bahnhofsrestaurants. Jenes Reich der unverwüstlichen Porzellanserie „Rationell“ mit den stapelbaren Tassen und den Kännchen mit absturzsicherem Deckel, wie man ihn eher der freiheitlich-demokratischen Marktwirtschaft zugetraut hätte als der DDR, die nicht mal einen gescheiten Dosenöffner zustande brachte.Der Verein entstand, um einen Mitropa-Waggon zu restaurieren„Eine Feier gibt’s erst zur Mitgliederversammlung nächstes Jahr“, sagt Klaus- Dieter Kretschmann, langjähriger Schlafwagenschaffner und Vorsitzender des Vereins „Freunde der Mitropa e.V.“ im Berliner Südosten. Rund 50 Mitglieder hat der Verein, der 1996 zur Restaurierung eines Mitropa-Waggons von 1940 gegründet wurde und seit Vollendung des Werkes – der Wagen steht jetzt vor der Zentrale von DB Fernverkehr in Frankfurt am Main – die Geschichte der Verkehrsgastronomie bewahrt: Auf den Festen der Dampflokfreunde mit Domizil in Schöneweide bewirtschaften die Mitropa-Veteranen deren original bordeauxroten Speisewagen oder den etwas kleineren Buffetwagen. Sie besuchen befreundete Vereine in Thüringen und Sachsen und öffnen auf Anfrage ihre kleine Laden-Ausstellung nahe dem Bahnhof Köpenick.

Wessis denken an muffige Raststätten und komischen GeruchWenn man das Stichwort „Mitropa“ in eine nicht mehr ganz taufrische deutsch-deutsche Runde wirft, fallen den Wessis muffige Raststätten mit muffligem Personal und ein komischer Geruch ein. Aber der Geruch kam wohl eher vom Bohnerwachs, und wirkliche Stammkunden waren naturgemäß eher die Ossis. Die haben sogleich den alten Witz parat: „Die Tassen sind stark, aber der Kaffee ist schwach“ und betonen, dass abgesehen vom wirklich bescheidenen Kaffee insbesondere die Speisewagen gepflegter und gemütlicher waren als die sonstige DDR. Von der unterschieden sie sich auch durch die relativ zuverlässige Verfügbarkeit von Spezialitäten wie Radeberger Pilsner und anständig gebratenen Schnitzeln. Die DDR war ein mikrowellenfreies Land, und BordBistro wie SnackPoint wurden erst später erfunden.

„Gemeckert haben die Leute erst, wenn zwei Stunden vor der Ankunft schon manches ausverkauft war“, erinnert sich Klaus-Dieter Kretschmann. Wobei es die Mitropa auch in Gestalt von Hotels, Friseursalons, Kiosken, Bahnhofsrestaurants und auf Schiffen der Weißen Flotte gab – und eben als Schlafwagenbetreiber. „In diesem Bereich haben wir hohes Ansehen genossen“, berichtet Kretschmann, der in den Osten wie in den Westen fahren durfte. Die DDR allein war zu klein für Schlafwagen, und auch der Zustand des Schienennetzes sprach eher fürs Wachbleiben. Dafür war das Bahnfahren billig, was die Mitropa vergleichsweise teuer erscheinen ließ – und zu etwas Besonderem machte. „Es war eine Oase der Ruhe und Kultiviertheit, wenn nicht gerade ein paar NVA-Soldaten auf Urlaubsfahrt aufeinandertrafen und schwer gebechert haben“, erinnert sich ein einstiger Stammgast. Ein kommunikativer Ort und obendrein ein denkbar komfortabler, wenn der restliche Zug mit seinen kunstlederbezogenen Achtpersonenabteilen in der zweiten Klasse gerade sehr voll war. „Die Kellner waren langsam, aber gemütlich. Nicht so barsch wie die in den HO-Lokalen.“ Und wenn man seine Jacke in die Ecke hängte, war nach der Mahlzeit nicht nur die Jacke noch da, sondern auch das Portemonnaie noch drin. Lange her.Geblieben sind alte Schriftzüge - und WitzeGroß geworden war die Mitropa dank Speise- und Schlafwagenmonopol bald nach ihrer Gründung. Nach dem Ersten Weltkrieg zusammengestutzt, expandierte sie zu Luft mit der Lufthansa und zur See mit der Fähre Sassnitz-Trelleborg. Nach dem Zweiten Weltkrieg berappelte sie sich trotz stark dezimierten Fuhrparks im Osten, während sie im Westen in der Gesellschaft DSG verschwand. 1994 fusionierten beide Unternehmen zur Mitropa AG, aber die wurde ab 2002 in ihre Geschäftsbereiche zerlegt und verkauft, bis 2004 die letzten Reste im Klopskettenkonzern SSP („The Food Travel Experts“) verschwanden. Eine Anfrage dort nach der Mitropa bleibt unbeantwortet. Was bleibt, sind Spuren wie die abblätternden Buchstaben an rotten Bahnhofsgebäuden von Metropolen wie Tantow in der Uckermark und Pasewalk in Vorpommern. Geschirr auf Ebay. Aber eben auch die gepflegten bordeauxroten Wagen bei Traditionsvereinen, die Veteranen wie die vom Freundesverein. Und Witze wie dieser: „Herr Ober, ich kaue schon 20 Minuten auf diesem Schnitzel herum!“ – „Sie können ruhig weiterkauen, wir haben 30 Minuten Verspätung.“

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Berliner Zeitung

 

Berlin - 100 Jahre Mitropa So schön ließ es sich im DDR-Speisewagen schlemmen

von Peter Neumann, 21. November 2016, 16:01 Uhr

Sie war ein Ort der Hoffnung und der Zuflucht. Ein Ort ungewöhnlicher Begegnungen – nicht nur mit bis dahin fremden Menschen, sondern auch mit ungewohnten Produkten und Speisen. Sie war beides: eine Gewöhnung an die Kargheit der neuen Heimat im Osten und an ihre absurden politischen Gegebenheiten – aber zugleich ein Tempel der Opulenz, in der erschwinglicher Alkohol und Soljanka in Strömen flossen.

Ein Besuch gehörte für mich dazu, wann immer ich als Student während der 1980er-Jahre zwischen dem Bundesgebiet und West-Berlin unterwegs war. Ein Besuch in der Mitropa, dem Speisewagen. Vor 100 Jahren wurde die Mitteleuropäische Schlaf- und Speisewagen AG in Berlin gegründet. Zeit sich zu erinnern – an Erlebnisse im Transitzug.

Allein schon die Annäherung war ein Erlebnis. Ein Wechselbad der Gefühle, positiv wie negativ. Während der D 345 mit Tempo 80 durch die Weiten der DDR schlingerte, war meist ein längerer Weg zu bewältigen. Durch schmale Gänge, auf denen DDR-Organe gelangweilt am Fenster standen, um aufzupassen, dass niemand illegal ein- oder ausstieg.

Vorbei an voll besetzten Abteilen, wo die Fahrgäste auf Plastiksitzen dösten, unter Gepäckablagen, auf der sich nach Weihnachten die Mitbringsel aus Westdeutschland türmten, mitgegeben von besorgten Eltern für das Leben im Außenposten der westlichen Zivilisation.

Die Geschichte der Mitropa

Am 24. November 1916 wurde in Berlin die Mitteleuropäische Schlaf- und Speisewagen AG (MSG / MITROPA) gegründet. Trotz  Hemmnissen nach dem verlorenen Krieg und Konkurrenz expandierte das Unternehmen bald.

1928 betrieb es 68 Schlaf- und 40 Speisewagen. Die Wagen waren bordeauxrot gestrichen. Der Grafiker Karl Schulpig entwarf das Emblem, damals noch mit Adler. 1939 hatte die MSG 244 Schlaf- und 298 Speisewagen. Juden war die Nutzung untersagt.

Nach 1945 wurde das Unternehmen geteilt. Im Westen Deutschlands entstand die Deutsche Schlafwagen- und Speisewagengesellschaft (DSG), im Osten wurde ab 1949 die Mitropa aufgebaut – mit einem Bruchteil der Fahrzeuge, die der MSG einst gehörten.

In der DDR wuchs die Mitropa stark. Sie war nicht nur in Zügen und auf Bahnhöfen der Deutschen Reichsbahn aktiv. Die Mitropa bewirtschaftete Autobahn-Rasthöfe und Schiffe, sie lieferte das Essen für die Interflug, Hotels und ein Motel. Bockwurst und Gulaschsuppe gehörten in der DDR zur Reise.

2002 wurde die Mitropa in andere Firmen integriert. Seit 2006 wird der Name in der Öffentlichkeit nicht mehr verwendet. Der Verein „Freunde der Mitropa“ (Berlin) hält die Erinnerung wach.

Alkohol gegen Nachdenklichkeit

Die Übergänge zwischen den Wagen waren dunkle Angsträume, in denen es heftig polterte und wo sich im Winter Schnee häufte. Und dann die Gerüche: nach einem DDR-Reinigungsmittel, das in die Kleider zog und die Fahrgäste noch Tage später als Reichsbahnnutzer brandmarkte.

Nach Braunkohle, deren Rauch in den Zug drang, wenn er durch ein Dorf oder eine Stadt fuhr, und der auf Berlin einstimmte: Dort roch es im Winter genauso. Dann drang ein anderer Geruch in die Nase: ein molekülgesättigter Mix aus Bockwurstdämpfen, zum Teil undefinierbaren Speisearomen, Menschenausdünstungen auf engem Raum. Ein Geruch, der Freude wachrief. Ein Griff zur Türklinke aus Aluminium, und das Ziel war erreicht: die Mitropa!

Voll wie immer. Und überheizt wie das Wohnzimmer der sächsischen Bekannten in Limbach-Oberfrohna. Doch am letzten freien Tisch wurde, nach kurzem Warten, das bei anderen DDR-Besuchen bewährte Gegenmittel gegen zu viel Nachdenklichkeit kredenzt: Alkohol.

Steak mit Würzfleisch

Anders als auf dem Sofa bei Korl-Morx-Stodt erst mal kein Brauner oder Weißer (Spirituosen), auch kein Pfeffi und kein merkwürdiger Wein. Sondern Bier, Bier, Bier – Wernesgrüner oder Radeberger. Oft nicht ganz kalt, und mit knapp unter vier D-Mark für den halben Liter für Studenten nicht gerade billig. Aber es war immer vorrätig. Wenn die Nachfrage groß war, dann ging das Personal schon mal mit einem Henkelkorb herum, anstatt die Flaschen auf Tabletts zu balancieren.

Wo sind wir? Lulu (Ludwigslust)? Biederitz? Bad Sulza? Schön, dann ist Zeit für ein Essen! Schweinesteak natur mit Beilage und Weiß- und Rotkrautkombi. Oder ein Schweinesteak au four, mit Würzfleisch und überbacken. Dann eben ein anderes Steak. Oder eine Soljanka. Alles serviert auf schwerem Stapel-Geschirr des Typs „Rationell“ mit dem martialisch wirkenden Mitropa-Logo.

So versank die Fremde dort draußen hinter einer Gischt aus Bier der Luxusklasse und warmer Suppe. Es existierte nur noch die gemütliche Zwischenwelt im Speisewagen aus den 1960er-Jahren. West-Berlin, die unwirtliche Stadt, konnte kommen!

Radeberger für Kenner

Ich habe viele andere Erinnerungen an die Mitropa. Zum Beispiel an die Rasthöfe entlang der Transitautobahn (wenn das Geld nicht reichte und Trampen angesagt war), an Michendorf im Nazi-Landhausstil von 1938 oder an „Magdeburger Börde“, wo es außer Weiß- und Rotkraut oft noch ein drittes Salatprodukt gab.

Und da sind die vielen Mitropa-Geschichten, die ich hörte. Von Zugbegleiterinnen und Fahrgästen, die sich im Liegewagenabteil näher kamen. Von Osnabrückern, die anklopften und mit zehn Flaschen Radeberger erfreut von dannen zogen.

2002 wurde die Mitropa in andere Unternehmen integriert. Es gibt sie nicht mehr. Aber die Erinnerungen, die bleiben.

 

– Quellen © 2016

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letzte Änderung: 09.01.2024